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Foto: Franz Kovacs

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Foto: Archiv Naturpark Weißbach

Biodiversität ... wie bitte?

Trost und Rat für die Biodiversitätspraxis

Die Biodiversität ist in aller Munde und das ist gut so. Blöd nur, dass noch immer viele „Biodiversität … wie bitte?“ fragen, die Antworten darauf nur so kunterbunt durcheinander purzeln und ab und an auch ein wenig daneben sind.

Für manche Zuhörer*innen ist der Begriff noch dazu schon ein richtiges Reizwort geworden und führt zu einem Aufstellen der Nackenhaare. Da ist Trost und guter Rat teuer. Wie man zur Biodiversität sonst noch guten Gewissens sagen kann, was die biologische Vielfalt eigentlich umfasst oder wie die Naturparke zum Erhalt unserer pflanzlichen und tierischen Vielfalt beitragen, können Sie hier nachlesen.

Wir wünschen viel Freude bei der Lektüre unseres Ratgebers (PDF-Download: 4,2 MB)!

 

Inhalt

  1. Biodiversität ... wie bitte?
  2. Richtig gute Strategien
  3. Ganz großes Netzwerk
  4. Vielfalt bekommt einen Wert
  5. Mittendrin statt nur dabei
  6. Eine Art weniger, na und?
  7. Das braucht das und kann nicht ohne das
  8. Unheimlich viel Verwandtschaft
  9. Ganz gleich und ganz verschieden

Biodiversität ... wie bitte?

Wie man zur Biodiversität sonst noch sagen kann

Der vielleicht etwas sperrige Begriff „Biodiversität“ meint eigentlich die Vielfalt aller Lebewesen, ihre Beziehungen zueinander und zu ihren Lebensräumen. Zum besseren Verständnis und für den alltäglichen Gebrauch eignen sich die Ersatzbegriffe „biologische Vielfalt“ oder auch „Vielfalt des Lebens“. Die können Sie getrost genauso gut verwenden!

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Zur biologischen Vielfalt gehört jede Form von Leben. Also Tiere inkl. Menschen, Pflanzen, Bakterien, Pilze, Algen wie auch alle anderen winzigen einzelligen Lebewesen. Das am häufigsten verwendete Synonym für Biodiversität ist die Artenvielfalt, also die Anzahl an verschiedenen Arten, die es je nach Bezugsraum in einer Landschaft oder aber auch auf der ganzen Welt gibt. Das ist aber nur eine Ebene von biologischer Vielfalt. So muhen, gackern oder grunzen auf so manchen Bauernhöfen mit Rindern, Hühnern oder Schweinen nicht nur unterschiedliche Arten, sondern sogar verschiedene tierische Familien. Auch um diese Vielfalt an verschiedenen kultivierten und wilden Familien geht es. Schaut man schließlich den Individuen einer Tierart oder Exemplaren einer Pflanzenart auf Pfoten oder Blätter, erkennt man wunderschöne Unterschiede. Bei Apfelbäumen etwa, die alle zur selben Baumart gehören, können Formen und Geschmäcker sehr variabel ausfallen. Hier bewegen wir uns auf der mannigfaltigen Ebene unterschiedlicher genetischer Ausprägungen, den kleinsten Bauplänen des Lebens, die unsere lebendige Vielfalt im Kern mitbestimmen. Nimmt man schließlich an einer Naturparkführung teil, eröffnet sich die landschaftliche Dimension von biologischer Diversität, wie z.B. kunterbunte Wiesen und Weiden, deren Pflanzen von Insekten bestäubt und schließlich von stattlichen Wiederkäuern oder dem Mähmesser eingekürzt werden, was für den Weiterbestand der krautigen Wiesenvegetation unverzichtbar ist.

Auch diese Vielfalt an ökologischen Zusammenhängen zwischen Organismen und ihren Lebensräumen meinen wir, wenn wir an die Beantwortung der Frage „Biodiversität ... wie bitte?“ denken.

Richtig gute Strategien

Welche Strategien zur Erhaltung der biologischen Vielfalt besonders wichtig sind

Den Rahmen für die Erhaltung unseres europäischen Naturerbes spannt die EU-Biodiversitätsstrategie auf. Diese wird durch die „Biodiversitäts-Strategie Österreich 2020+“ präzisiert und schließlich auch mit entscheidender Hilfe der Naturparke umgesetzt.

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Intention der von der Europäischen Kommission am 3. Mai 2011 vorgelegten EU-Biodiversitätsstrategie ist es, den Zustand der biologischen Vielfalt in Europa innerhalb der nächsten zehn Jahre zu verbessern. Das ist eine gute Strategie, in der sechs Hauptziele für den Biodiversitätsschutz und umfassende Maßnahmen definiert wurden. Das erste Ziel sieht die vollständige Umsetzung des EU-Naturschutzrechtes vor. Zusätzlich soll ein besserer Schutz und Wiederherstellung von Ökosystemen und Ökosystemleistungen sowie ein verstärkter Einsatz von grünen Infrastrukturen und eine nachhaltigere Land- und Forstwirtschaft umgesetzt werden. Schließlich ist geplant, eine nachhaltigere Bewirtschaftung der EU-Fischbestände, eine strengere Überwachung invasiver, gebietsfremder Tier- und Pflanzenarten sowie eine Erhöhung des Beitrages der EU zur Vermeidung des globalen Verlustes an biologischer Vielfalt zu erreichen.

Als Vertragspartei des Übereinkommens hat Österreich darauf aufbauend im Dezember 2014 eine nationale Strategie zur Umsetzung festgelegt. Diese Biodiversitäts-Strategie Österreich 2020+ soll den Verlust an Arten, genetischer Vielfalt und Lebensräumen wirksam einbremsen. In der österreichischen Strategie sind dazu fünf Handlungsfelder mit zwölf Zielen formuliert, die bis 2020 erfüllt werden sollen. Zentrale Prinzipien darin sind die Integration des Biodiversitätsschutzes in alle relevanten Politikbereiche sowie eine koordinierte Vorgangsweise. Sie zielt insbesondere darauf ab, die vielen, mit der Landwirtschaft verbundenen traditionellen Wirtschaftsweisen in Österreich zu erhalten. So soll z.B. der Gesamtbestand der seltenen Nutztierrassen in Österreich erhalten bzw. erhöht werden. Für ein österreichweit koordiniertes Vorgehen in den Naturparken haben die Verantwortlichen darauf aufbauend die Biodiversitätsstrategie für Naturparke entwickelt sowie die Themenfelder und Maßnahmen für die kommenden Jahre abgestimmt. Damit reihen sich die Aktivitäten der Österreichischen Naturparke nahtlos in die Umsetzung der österreichischen und europäischen Biodiversitätsstrategie ein und leisten wichtige Beiträge zum Erhalt unseres Naturerbes.

Ganz großes Netzwerk

Was die Naturparke für die biologische Vielfalt tun

In den Österreichischen Naturparken engagieren sich viele kleine und große, junge und alte Menschen mit ganzer Tatkraft dafür, dass wir alle in den Genuss dieses wunderbaren gemischten Satzes österreichischer Landschaftsvielfalt kommen dürfen.

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Die Naturparke und ihre Akteur*innen bilden ein gewaltiges, generationenübergreifendes Naturschutznetzwerk und nehmen damit eine gestaltende und zukunftsweisende Rolle für den Schutz und Erhalt der Biodiversität ein. Die Basis des 47 Naturparke großen Netzwerkes bilden ca. 480.000 Bürger*innen in über 200 Naturpark-Gemeinden, in denen mehr als 400 im Naturparkmanagement und in der Naturvermittlung tätige Personen, über 6.000 Kinder und Jugendliche in Naturpark-Schulen und -Kindergärten und viele weitere Partner wie Land- und ForstwirtInnen, Beherbergungsbetriebe und Tourismusanbieter wirken und werken. Insgesamt sind in den 47 Naturparken über 10.000 Personen an der Verwirklichung der Naturparkidee beteiligt.

Mit den mehr als 360 Naturvermittler*innen, die jährlich rund 80.000 Teilnehmer*innen im Zuge von Naturerlebnisangeboten persönlich begleiten, verfügt das Naturparknetzwerk österreichweit auch über die größte Gruppe an Naturschutz-Akteur*innen, die Inhalte der Biodiversität face to face vermitteln. Schließlich sind die Naturparke mit ihrer Ausrichtung, im Gegensatz zu anderen Schutzkategorien, dezidiert mit dem Auftrag der Verbindung, Einflechtung und Vermittlung von Naturschutzanliegen zu anderen gesellschaftlichen Lebensbereichen ausgerichtet. Und genau das macht die Naturparke auch zu etwas ganz Besonderem und qualifiziert sie als wichtigen Partner für die Umsetzung der österreichischen Biodiversitätsstrategie.

Die Naturparke leisten dabei mit zahlreichen Projekten angewandte Forschungsarbeit und setzen gemeinsam mit Landnutzer*innen und Freiwilligen Pflegemaßnahmen um. Sie tragen mit den Naturpark-Spezialitäten zum Erhalt der traditionellen Kulturlandschaft und damit der Biodiversität bei. Darüber hinaus kümmern sie sich um die Eindämmung von invasiven, gebietsfremden Pflanzen und Tieren, betreiben Arten- und Lebensraumschutz, schaffen Arbeitsplätze und gewährleisten in gemeinsamen Projekten mit dem Tourismus, dass Naturschutz und Erholungsnutzung auch Hand in Hand gehen können. Nicht zuletzt vermitteln die Naturparke sowohl der Bevölkerung als auch Gästen den Wert der Biodiversität und legen dabei insbesondere mit Naturpark-Schulen und -Kindergärten einen wichtigen Grundstein für eine Zukunft voller Leben.

Vielfalt bekommt einen Wert

Warum die biologische Vielfalt eine Lebensversicherung ist

Alle reden von Biodiversität und dass sie so wichtig und wertvoll ist. Dabei kennt die biologische Vielfalt von sich aus eigentlich gar keinen Wert.

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Die biologische Vielfalt IST einfach und subsummiert von Haus aus lediglich, wie mannigfaltig ein Lebensraum mit Arten, Familien, Genen ausgestattet ist und welche Funktionsbeziehungen zwischen Lebewesen und Lebensräumen bestehen. Manchmal mehr, manchmal weniger, manchmal bunt, manchmal fad. Einen zugeordneten Wert bekommt die Biodiversität erst von uns Menschen. Das ist beim gesamten Naturschutz so. Das Ziel der Erhaltung aller Erscheinungsformen der Natur ist UNS Menschen wichtig. Wir Menschen wollen und brauchen fruchtbaren Boden, dass jemand unsere Nutzpflanzen bestäubt, Landschaften zur Erholung, Lebensmittel, Holz und andere Rohstoffe, sauberes Trinkwasser, Arzneimittel, verschiedene Obstsorten und Tierrassen. Das alles hat mit biologischer Vielfalt zu tun und durch den vielfältigen Nutzen bekommt sie einen breiten gesellschaftlichen Wert. Und was für einen! Ohne die Bewahrung der Vielfalt an Pflanzen, Tieren und Ökosystemen würden die Überlebenschancen vom Homo sapiens drastisch sinken.

Wie viel Vielfalt reicht, kann man lange diskutieren. Klar ist jedenfalls, dass eine möglichst große Vielfalt einfach mehr Möglichkeiten für die Zukunft bedeutet und uns besser dabei hilft, flexibel auf Veränderungen zu reagieren. Sie erhöht die Chancen dafür, dass wir und unsere Kindeskindeskindeskinder körperlich und geistig gesund bleiben oder werden, qualitativ hochwertige Lebensmittel genießen können und glücklich aufwachsen dürfen. Dafür sorgen natürlich auch unsere Naturparke. Sie bedecken mit rund 480.000 ha, von denen fast die Hälfte in Europaschutzgebieten nach der Flora-Fauna-Habitatrichtlinie oder der Vogelschutzrichtlinie liegen, etwa 6 % der Fläche Österreichs.

Vor allem aber repräsentieren die Naturparke als Landschaften voller Leben einen feinen gemischten Satz der biologischen Vielfalt unserer wunderschönen Heimat. Hier finden sich sowohl beindruckende Naturlandschaften als auch kleinstrukturierte Kulturlandschaften, die oftmals durch die Nutzung durch den Menschen entstanden sind, der über Jahrhunderte hinweg seinen Lebensraum gestaltet hat. Die durch Menschenhand kultivierte Lebenswelt der Naturparke ist damit eine profitable Lebensversicherung für uns und unsere Nachkommen. Und da man sie Jahr um Jahr genießen, angreifen, erschmecken oder erschnuppern kann, ist sie auch eine der wenigen Versicherungen, die regelmäßig auszahlt.

Mittendrin statt nur dabei

Was wir zur biologischen Vielfalt beitragen und warum sie rasant verschwindet

Eine Plus-Minus Statistik zur biologischen Vielfalt der letzten Jahrzehnte sieht nicht rosig aus. Aber wie sagt schon ein schönes Fußballersprichwort: „Aufgeben tun wir einen Brief“.

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Durch das konsequente Züchten von Pflanzensorten oder Tierrassen und die Nutzung unserer Landschaften haben unsere Vorfahr*innen eine bunte, summende Vielfalt mit tausenden Tier- und Pflanzenarten in hunderten Lebensraum- und Biotoptypen geschaffen. Mehr als die Hälfte der Lebensraumtypen hätte es ohne unser Zutun in dieser Ausprägung und Verteilung nie geben. Was wir damit aber seit den letzten hundert Jahren aufführen, geht auf keine Kuhhaut. Alleine im Alpenraum sind von den überlebenden 136 heimischen Nutztierrassen 110 Rassen gefährdet. Weltweit sind laut FAO in den letzten hundert Jahren drei Viertel der landwirtschaftlichen Vielfalt verloren gegangen. 75 % der Kulturpflanzenarten sind schlicht und einfach verschwunden. Unglaublich. Bei den wildlebenden Organismen schaut die Sache noch einmal trister aus. Nach Bruno Baur wird geschätzt, dass im 21. Jahrhundert zwischen 10.000 und 25.000 Arten jährlich aussterben. Das sind etwa 1 bis 3 Arten pro Stunde. In der Geschichte gab es auch immer wieder Zeiträume, in denen viele Arten ausgestorben sind. Das derzeitige Massenaussterben läuft allerdings mindestens 1000 Mal schneller als jemals zuvor in der Menschheitsgeschichte.

Die Hauptgründe für den Verlust an biologischer Vielfalt sind die Veränderung von Lebensräumen, der Klimawandel, Nutzungsänderungen und -aufgabe, eingeschleppte und gebietsfremde Arten, die Übernutzung und Umweltverschmutzung. Dass es auch anders geht, zeigen wieder einmal unsere Naturparke.

Sie haben den gesellschaftlichen Auftrag, den Naturraum durch nachhaltige Nutzung in seiner Vielfalt zu sichern und die traditionellen Kulturlandschaften zu erhalten, wie z.B. der Naturpark Weissensee mit dem Kulturlandschaftsprogramm erfolgreich vormacht. Die Landbewirtschafter*innen und all die anderen AkteurInnen in den Österreichischen Naturparken erhalten mit ihrer täglichen Arbeit dieses vielfältige biologische Erbe, das unsere Vorfahren über einen langen Zeitraum mitgeschaffen haben.

Eine Art weniger, na und?

Warum mehr Vielfalt besser ist

Dass es Sinn macht, den majestätischen Sibirischen Tiger und die trolligen Eisbären zu erhalten oder Kultur- und Glatthafer als menschliche und tierische Nahrung zu bewahren, leuchtet den meisten ein. Nur zuwas, bitte, braucht es die blutsaugenden Gelsen?

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Sie können sicher auf die Schnelle dutzende Tier- und Pflanzenarten aufzählen, bei denen nahezu alle Mitmenschen einhellig den Sinn erkennen, diese Lebewesen zu erhalten. Das leuchtet umso mehr ein, je stärker es um Plüschtierassoziationen, Ernährung, Erholung oder ums Geschäfte machen geht.

Dass es jedoch ein Drama wäre, wenn wir z.B. unsere heimischen Stechmücken nicht mehr unter uns hätten, teilen wahrscheinlich die Wenigsten. Und trotzdem sind die Gelsen unverzichtbar. Sie stehen zwar weder im Anhang II der Richtlinien für Natura 2000-Gebiete noch in irgendwelchen Roten Listen. Trotzdem sind die hunderten Tonnen Haus- und Augelsen für Fische, Vögel oder Fledermäuse unerlässliche Nahrungsgrundlage und erfüllen wichtige ökologische Aufgaben. Was wirklich passieren würde, wenn die nahezu 40 heimischen Gelsenarten nicht mehr unter uns weilen würden, weiß kein Mensch. Nicht nur, dass viele heiß-geliebte Tierarten ihre Nahrungsbasis verlieren, wir würden womöglich einzigartige Lösungspotenziale ihrer Stechrüsselapparate oder genialen Atemrohre ungenutzt lassen. Und vielleicht steckt in ihrem eiweißhältigen Speichelsekret mehr medizinischer Nutzen, als die Hauptfunktion der Blutgerinnhemmung. Weniger Gelsen beim abendlichen Grillen, ok. Weniger Gelsenstiche, noch besser. Aber überhaupt keine Gelsen mehr wäre womöglich ein unwiederbringlicher Fauxpas an der Natur und ein glatter Schnitt ins eigene Menschenfleisch. Ob wir nun Naturschützer*in, Pharmakolog*in oder technische Entwickler*in sind. Das Beispiel lässt sich auf so gut wie alle Arten übertragen. Bei so vielen „vielleichts“ sollten wir jedenfalls mehr als vorsichtig sein und alles tun, um nur ja keine weitere Art zu verlieren, Haus- und Augelsen inklusive. Denn weg ist weg. Letztendlich – und das ist für immer mehr Menschen überhaupt das Wichtigste – sind auch die Gelsen Teil unserer geistigen Lebensgrundlage. Je mehr landschaftstypische Arten wir nämlich haben, desto mehr Geschichten lassen sich erzählen, desto vielfältigere Erlebnisse und kleine Abenteuer lassen sich erleben und desto bunter bleiben und werden unsere Landschaften voller Leben.

Das braucht das und kann nicht ohne das

Was die Vielfalt mit Ökosystemen zu tun hat

Erst wenn man in einem Bachbett die Steine umdreht, Erde unter dem Mikroskop betrachtet, auf Vogelstimmen hört oder mit einem umgedrehten Regenschirm unter einem Strauch steht und diesen schüttelt, merkt man wie viel man im Alltag nicht sieht, aber trotzdem immer da ist.

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Noch dazu ist das Ganze viel mehr als die Summe der einzelnen Teile an großen und kleinen Einzelwesen. Bei den Funktionsbeziehungen und Abhängigkeiten zwischen den Organismen und ihren Lebensräumen geht es nicht nur um Fressen und Gefressen werden. Beim Zusammenspiel in Ökosystemen gibt es viele verschiedene Arten von „in Beziehung“ stehen. Manche Arten wie etwa Pilze im Boden arbeiten mit Bäumen in einer Symbiose zusammen, wobei die Pilze dem Baum beim Wasserfassen helfen und der Baum die Pilze mit Nährstoffen labt. Fledermäuse nisten sich in die von quartierbereitenden Spechten verlassenen Baumhöhlen ein, Wild- und Honigbienen sowie hunderte andere Insektenarten bestäuben wilde und kultivierte Pflanzen beim Sammeln von Pollen und Nektar für ihren Nachwuchs. Von unglaublich vielen dieser ökologischen Zusammenhänge profitieren auch wir Menschen, ob es nun die Bestäubungsleistung unserer Kulturpflanzen oder die Bereitstellung von Arzneimitteln, der Natur abgeschaute technische Errungenschaften oder wohlschmeckende Früchte sind.

Ganz egal, auf welche Landschaft Sie schauen und was darin alles abgeht, alle sind sie Ökosysteme, egal ob Wald, Acker, Moor, Feuchtwiese, Streuobstwiese oder Siedlung. Noch dazu ist jeder Mensch mit seinen mikroskopisch winzigen, tierischen Mitbewohnern wie Haarbalgmilben, Kariesbakterien oder Hautpilzen selbst, genau wie ein Stück verwitterndes Holz, mit all seinen holzabbauenden Kleintieren ein Ökosystem. Diese Vielfalt der Ökosysteme, also des Zusammenspiels zwischen Lebewesen und ihrer Umgebung, ist die komplexeste und verbindendste Ebene der biologischen Vielfalt. Und nicht zuletzt ist auch die Liebe und Fortpflanzung als nachwuchsversprechende Verbindung nichts anderes als ein gelebter Funktionszusammenhang im sich ewig erneuernden Gefüge der Biodiversität.


Wie man sich das vorstellen kann

Streuobstwiesen prägen zur Baumblüte im Frühjahr das Landschaftsbild in vielen Naturparken. Sie gehören in Mitteleuropa zu den Hotspots der Biodiversität. Mit dem Zusammenspiel von über 5.000 Tier- und Pflanzenarten ist die Streuobstwiese ein höchst ausgeklügeltes, funktionierendes System.

Wir haben Streuobstwiesen angelegt, um Obst zu ernten und mit dem Unterwuchs kleine und große Nutztiere zu ernähren. Damit wurde zugleich ein extrem strukturreiches, vielfältiges und für unzählige Tiergruppen nutzbares ökologisches System sprichwörtlich aus dem Boden gestampft. In einer hochstämmigen Streuobstwiese haben schon unsere Ururgroßväter ältere, dickere, großkronigere und somit höhlenfähigere Bäume zugelassen und gefördert, als in einer modernen, einfacher gestrickten Intensivobstkultur. Damit wurden wir Menschen unweigerlich Teil einer ökologischen Funktionskette, die mit den quartiermachenden Spechten ihre Fortsetzung findet.

Ambitionierte Grün- oder Buntspechte zimmern Höhlen für ihren Nachwuchs, die für weniger zum Hämmern ausgestattete Tiere wie Steinkauz, Gartenrotschwanz, Bechsteinfledermaus oder Siebenschläfer zur Nachmiete allerbeste Dienste leisten. Und wenn die holz- und höhlenabbauenden Prozesse die Baumhöhlen schon ein wenig instabil machen, ziehen schließlich Hornissen oder Wespen ein. Insgesamt gehören Streuobstwiesen übrigens mit über 100 nachgewiesenen Vogelarten zu den Lebensräumen mit dem größten Artenreichtum der Vögel innerhalb der Kulturlandschaft. Der mit Abstand größte Teil der Artenvielfalt entfällt jedoch auf die Gliederfüßer, zu denen u.a. die Insekten, Spinnen und Tausendfüßler gehören. Die Anzahl der vorkommenden Gliederfüßer-Arten in den Streuobstwiesen wird auf mehrere tausend geschätzt. Sie alle übernehmen nicht zuletzt wieder eine wichtige Funktion als Nahrungsbasis für die zahlreichen zwitschernden und singenden Vogelarten. Schließlich haben die Streuobstwiesen vor allem zur Blüte für die BesucherInnen der Naturparke noch eine ganz wichtige Hauptfunktion. Sie sind für die Ausschüttung von Glückshormonen verantwortlich.

Unheimlich viel Verwandtschaft

Was die Vielfalt mit Familien zu tun hat

Meist wird biologische Vielfalt mit Artenvielfalt gleichgesetzt. Zur biologischen Vielfalt gehören zusätzlich aber auch alle anderen verwandtschaftlichen Ebenen unterschiedlichen Grades. Ganz genauso wie bei uns Menschen.

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Die sogenannte Taxonomie bei Tieren oder Pflanzen ist nichts anderes als eine menschgemachte Konvention zur Ordnung von Lebewesen, um sich in der unglaublichen bunten Merkmalsvielfalt der Natur besser zurecht zu finden. Der wissenschaftliche Name einer Art beispielsweise besteht dabei immer aus dem Gattungsnamen und dem konkreten Artnamen. Der Kulturapfel heißt etwa Malus domestica, Malus bezeichnet den Namen der Gattung. Durch die Kombination mit dem Namen domestica wird daraus die Art Malus domestica, eine in der Theorie eindeutig identifizierbare Art. Vereinfacht kann man sagen, dass alle Exemplare bei Pflanzen oder Individuen bei Tieren zu einer Art gehören, die sich miteinander fortpflanzen können und deren Nachkommen das auch können. Miteinander verwandte Arten, die zur selben Gattung, der nächst oberen Ordnungskategorie oder schließlich auch zur selben Familie gehören, haben oft ähnliche Eigenschaften oder sehen ähnlich aus. Im Obstsalat finden sich so zum Beispiel viele gut schmeckende Vertreter einer Familie: Äpfel, Birnen, Kirschen, Zwetschken, Marillen, Himbeeren und Erdbeeren gehören alle zur Familie der Rosengewächse. Als Gewürze verwenden wir viele aromatische Pflanzen, die zur Familie der Doldenblütler gehören: Petersilie, Anis, Fenchel, Liebstöckel, Koriander und Kümmel. Und für Schärfe sorgt die Familie der Kreuzblütler mit Kren, Radieschen, Kresse und Senf.

In Österreich leben annähernd 45.000 Tierarten und etwa 3.000 Farn- und Blütenpflanzen, die es auch in weiten Teilen Europas oder der Welt gibt. 581 Tier- und 167 Pflanzenarten kommen dabei ausschließlich in unserem kleinen Österreich vor. Schon spannend. Zum Beispiel die Anemonen-Schmuckblume im Naturpark Steirische Eisenwurzen. Sie kommt weltweit nur in Ober-, Niederösterreich und der Steiermark vor. Und auch die Attersee-Reinanke, ein geschätzter Speisefisch, treibt sich ausschließlich in österreichischen Gewässern herum.


Wie man sich das vorstellen kann

Da die Streuobstwiese so ein wunderbar komplexer Lebensraum ist, haben es die Verwandtschaftsverhältnisse in sich. Bei den Obstbäumen ist die Sache vergleichsweise einfach, weil die „üblichen Verdächtigen“ in der Regel zur Familie der Rosengewächse gehören.

Der Apfel (Gattung Malus) ist, sofern sich keine Wildäpfel eingeschlichen haben, durch viele verschiedene Sorten vertreten, die alle zur Art des Kulturapfels Malus domestica gehören. Bei den Birnen ist es genauso, die Gattung heißt Pyrus und alle Birnensorten sind in der Art Pyrus communis vereint. Die Gattung Prunus ist da schon spannender, zu ihr gehören nämlich alle Zwetschken, Kirschen, Marillen, Pfirsiche und viele Kleinpflaumen wie unsere geliebten Kriecherl. Die weniger offensichtlichen Bewohner, die Tiere in einer Streuobstwiese, sind dabei klar in der Mehrzahl. Im Durchschnitt kommen in Grünlandökosystemen auf jede Pflanzenart zehn Tierarten, die diese Pflanze als Nahrungsgrundlage nutzen. Das tut zum Beispiel die Überfamilie der Bienen. Neben den Honigbienen gibt es unglaubliche 690 Wildbienenarten, die auf Österreichs Blüten herumschwirren. Unter ihnen alleine 46 Hummelarten. Je nach geografischer Region, Landschaft, Wetter oder Blütenbau sind die Wildbienen der Honigbiene ebenbürtige oder sogar effizientere Bestäuber. Bei den Birnen, die durch den Inhaltsstoff Trimethylamin für uns ein wenig nach verdorbenem Fisch riechen, aber für manche Insekten unwiderstehlich werden, übernimmt diesen Job häufig die Familie der Schwebfliegen oder die Unterfamilie der Rosenkäfer.

Die Verwandtschaftsverhältnisse der Insekten einer Streuobstwiese zu erfassen, ist schon eine ambitionierte Aufgabe. Was sich aber unter der Erde an biologischer Vielfalt abspielt, sprengt alle Grenzen. Das Leben im Untergrund ist extrem wichtig für die Fruchtbarkeit unserer Böden und damit für unser Überleben, aber gleichzeitig noch viel undurchschaubarer. Alleine in einem Gramm Erde befinden sich Milliarden Organismen. Zu beschreiben, wie die alle miteinander verwandt sind, wäre sicher mehr als eine Jahresaufgabe aller Naturpark-Akteur*innen in ganz Österreich.

Ganz gleich und ganz verschieden

Was die Vielfalt mit den Genen zu tun hat

Wie bei Menschen, die alle einer Art angehören und deren Individuen genetisch verschieden sind, existiert auch bei allen anderen Lebewesen eine fantastische Vielfalt an genialen Bauplänen und individuellen Detaillösungen.

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Die Verschiedenheit der Gene innerhalb einer Art ist die Grundlage dafür, dass der Homo sapiens überhaupt in der Lage war, so viele unterschiedliche Sorten und Rassen züchten zu können. Ein massiger Bernhardiner und ein knöchelhoher Dackel sind Rassen, die alle aus der Ursprungsart – dem Wolf – gezüchtet wurden. Kohlrabi, Brokkoli, Weißkraut, Kohlsprossen und Karfiol liefern ein Beispiel vom Gemüseteller: Auch sie gehören zur selben Art, dem Gemüsekohl. Diese vielen Geschmäcker, Farben und Wuchsformen stammen alle aus dem Genpool des Gemüsekohls. Genetisch wild geht es auch innerhalb von klassischen Wildarten zu. Die Anpassung von Wildpflanzen an lokale Umweltbedingungen wie Temperatur, Niederschlag oder Untergrund führte dabei über Jahrtausende zu einer regionalen Differenzierung innerhalb ihrer Verbreitungsareale. Dadurch sind unterschiedliche Ökotypen entstanden, deren Anpassungspotential auch in der DNS des jeweiligen Individuums niedergeschrieben ist. Schaut man etwa unseren Wildrosen näher auf Blüte, Früchte oder Blätter, erkennt man eine unglaubliche Vielfalt, die von Gegend zu Gegend unterschiedlich ist. Durch eine Analyse der nur über die Mutter vererbten Chloroplasten- und Mitochondrien-DNS sind wir heute in der Lage, diese regionalen Formenschwärme auch genetisch zu erfassen und letztendlich auch zu erhalten. Denn auf einen großen regionalen Genpool innerhalb einer Art zurückgreifen zu können, heißt jedenfalls, flexibel auf Veränderungen der Umweltbedingungen, wie etwa den Klimawandel, reagieren zu können. Vielfältige Gene schaffen einfach vielfältige Chancen für die Zukunft.

Wie wertvoll ein kleiner genetischer Unterschied sein kann, zeigt übrigens ein Beispiel aus dem Buch von Bruno Baur aus Asien. In den 1970er-Jahren tauchte ein Virus auf, der die Reisernten von Indien bis Indonesien vernichtete. Nur eine von 6.273 Reissorten war gegen diesen Virus genetisch immun. Damit ist eigentlich alles gesagt.


Wie man sich das vorstellen kann

Niemand weiß genau, wie viele Obstsorten es in Österreich gibt, die Schätzungen reichen von 800 bis 2.000 und jedes Jahr werden etwa 40 bisher unbekannte entdeckt. Vor allem bei den Äpfeln gibt es eine grandiose Vielfalt.

Apfelsorten zeigen uns ganz deutlich die genetischen Unterschiede innerhalb ihrer Art. Sie alle gehören, wie schon erläutert, zur selben Art des Kulturapfels (Malusdomestica), unterscheiden sich aber stark in ihrem Aussehen, Geschmack, Blüh- und Reifezeitpunkt, Lagerfähigkeit und anderen Eigenschaften. In den Streuobstwiesen der Österreichischen Naturparke finden sich viele, teils regional einzigartige und besonders charakteristische Obstsorten, wie die Hirschbirne im Pöllauer Tal, der Weberbartlapfel im Obst-Hügel- Land oder der Maschanzker im Naturpark Raab-Örség-Goričko. An ihnen sieht man auch, welches wirtschaftliche Potenzial in ihnen steckt und welche identitätsstiftende Kraft in der Biodiversität steckt.

Aber auch in der Krautschicht der Streuobstwiese finden wir zahlreiche Beispiele für Anpassungsfähigkeit und genetische Unterschiedlichkeit innerhalb einer Art. Nehmen wir etwa das allseits bekannte Wiesen-Rispengras (Poa pratensis). Es hat sich mit seiner Wuchsform über längere Zeiträume an unterschiedliche Bewirtschaftungsarten angepasst. Es gibt eine höherwachsende Variante, die sich auf Mähwiesen entwickelt hat und eine niedrigwüchsigere Form, die auf beweideten Flächen zu finden ist. Seine Fortsetzung findet die genetische Variabilität auch im Maul vom Krainer Steinschaf oder Waldschaf, die im Dreiländereck Kärnten, Slowenien und Friaul oder in den Bundesländern Nieder- und Oberösterreich auch so manche Streuobstwiesen einkürzen. Bei ihnen hat der Mensch lediglich aktiver in die Selektion eingegriffen, beim Wiesen-Rispengras dürfte es einfach so passiert sein. Fest steht jedenfalls, dass man in den Österreichischen Naturparken mithin die besten Chancen in unserem Land hat, gelebte genetische Variabilität anzutreffen, die wir in Zukunft noch alle sehr gut brauchen können

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